Der Mensch - eine Gute-Nacht-Geschichte

Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Wald gelaufen war. Scheinbar ziellos, ohne Orientierung, hatte er seine Beine bewegt. Er war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Wald war, durch den er ging, aber es roch so nach Wald, und er glaubte auch ein leises Rauschen zu hören, als wenn ein Wind die Blätter aneinander riebe. Aber Bäume oder Gebüsch sah er nicht, er sah eigentlich gar nichts, es war einfach nur dunkel um ihn, und es fühlte sich an wie im Wald.

In – seiner Meinung nach – regelmäßigen Abständen hatte er seine Richtung geändert, abwechselnd, einmal nach rechts, dann wieder nach links, um nicht im Kreis zu laufen. Er wusste nicht genau, ob er sich nicht doch einmal vertan hatte, aber er war sich ziemlich sicher, nicht im Kreis gelaufen zu sein, denn da war nichts, was ihm bekannt vorkam.

Es verwunderte ihn ein wenig, dass er noch nicht einmal gegen einen Stamm gelaufen oder über eine Wurzel gestolpert war; es schien so, als wichen ihm die Gewächse des Waldes aus oder als leitete jemand seine Füße.

Hin und wieder hatte er das Gefühl, als befänden sich andere Wesen – solche seiner Art und auch Geschöpfe des Waldes – in seiner Nähe. Er hörte Geräusche, roch auch ihm bekannt vorkommende Dinge, die er seinen Artgenossen zuordnete – aber was ihn irritierte, war, dass er nie jemand anders sah!

Er wurde auch nie angesprochen, so als sähen ihn die anderen auch nicht, ja es schien, als bemerkten sie nicht einmal seine Gegenwart. Es war wie im – Traum!


War es ein Traum?


Er betastete seine Beine. Nein, unmöglich, sie bewegten sich doch. Und wenn er träumte, warum hatte er ständig das Gefühl, ja war sich dessen bewusst, dass sich seine Umgebung mit jedem Schritt, mit jeden Augenblick, veränderte? Er war sich sicher, ein Traum konnte es nicht sein – und doch – waren nicht seine Augen geschlossen? Er betastete sein Gesicht und – tatsächlich. Die Augen waren fest geschlossen. Er wunderte sich, denn er erinnerte sich gar nicht daran, sie zugemacht zu haben – wenn er so darüber nachdachte, war ihm nicht einmal klar, woher er überhaupt gekommen war. Seine bewusste Erinnerung begann mit dem Gefühl, durch einen tiefen, dunklen Wald zu gehen.    -     Plötzlich wurde er von etwas abgelenkt. Aus der Richtung, in der er sich gerade bewegte, kam etwas Merkwürdiges, vielleicht sogar Beunruhigendes, das seine bisher von ihm als ruhige Geborgenheit empfundene Dunkelheit, in der er sich befand, veränderte. Vor ihm schien etwas – Helles – zu sein.


Eigentlich konnte er mit diesem Begriff gar nichts anfangen, das war etwas, was er bisher nicht gekannt hatte. Aber in dem Moment, als er dieses Wort in seinem Kopf spürte, hatte er das sichere Gefühl, dass es die richtige Bezeichnung für die Veränderung vor ihm war.

Er blieb stehen, um sich über die genaue Richtung klar zu werden, dann bewegte er sich weiter auf die Helligkeit zu. Es beunruhigte ihn zwar etwas, aber er fühlte sich gleichzeitig sehr stark davon angezogen, als sei es seine Bestimmung, dorthin zu gelangen.


Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, und er blieb abrupt stehen.

‚Wenn ich meinen Händen befehlen kann, zu fühlen, was meine Beine tun, und zu erforschen, ob meine Augen geschlossen sind, wenn ich meinen Beinen befehlen kann, anzuhalten oder sich weiterzubewegen, den Körper in eine bestimmte Richtung zu drehen, dann muss ich auch in der Lage sein, meinen Augen zu befehlen, sich zu öffnen und zu sehen!’    -    Mit einer bewussten, mentalen Kraftanstrengung öffnete er seine Augen, und sie sahen! :


Er befand sich in einem hohen, weiten, offenen Wald, einem Dom nicht unähnlich – seine Sinne hatten ihn nicht getäuscht – vor ihm war der Wald zuende, und dahinter befand sich die Quelle der Helligkeit. Da war eine weite, gewellte, grüne Wiese, darüber spannte sich ein azurblauer Himmel, die Sonne schien auf die Wiese und brachte sie zum Leuchten, und die vielen gelben und weißen Wiesenblumen reckten ihre Blütenköpfe der Sonne entgegen.

Plötzlich wunderte er sich darüber, dass es ihm so einfach bewusst war, was er sah – obwohl er die Worte bisher nie benutzt hatte, kannte er sie doch und wusste die Namen der Dinge! Fasziniert wollte er sich weiter auf die Wiese zu bewegen, auf den Waldrand zu, als er plötzlich – stolperte. Mühsam das Gleichgewicht bewahrend, sah er auf seine Füße und stellte fest, dass er im Begriff war, den Weg, auf dem er sich anscheinend die ganze Zeit bewegt hatte, zu verlassen, und dass zwischen ihm und der Wiese nur unwegsames Gelände war. Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns kehrte er auf den Weg zurück und bewegte sich auf ihm weiter, bestrebt, zumindest ungefähr die Richtung zu der Wiese einzuhalten. Nachdem er so einige Zeit den Weg entlang gegangen war, der ihn tatsächlich allmählich der Wiese näherbrachte, wurde er sich mehr und mehr seiner Umgebung bewusst. Da waren noch andere Lebewesen um ihn herum, zum einen Geschöpfe des Waldes, zum anderen – Menschen wie er.


Woher wusste er, dass er ein Mensch war?


Die anderen Menschen verhielten sich völlig unterschiedlich und kamen ihm merkwürdig vor. Einige gingen im Kreis, andere im Zickzack, einer schien im Stehen zu schlafen und sich gar nicht bewegen zu wollen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er, dass alle ihre Augen geschlossen hatten.

Er wollte rufen „Macht doch eure Augen auf“, aber es war so, als hätte er keine Stimme, oder als wolle diese ihm nicht gehorchen.

Plötzlich spürte er eine Hand auf seinem Arm und fühlte die Gegenwart einer anderen Person; gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass diese Person – so wie er selbst – die Augen offen haben musste, sonst wäre sie ja nicht zu dieser gezielten und bewussten Handlung in der Lage gewesen. Er drehte sich um und sah seine Annahme bestätigt.


„Du kannst ihnen so nicht helfen. Sie müssen – genau wie du – ihre Fähigkeiten selbst entdecken und lernen, sie anzuwenden. Nicht alle werden später einmal aus eigener Kraft sehen können. Einige wollen ihre Sicherheit nicht aufgeben, anderen ist die Fortbewegung zu anstrengend oder nicht erstrebenswert.“

„Wieso kann ich nicht reden?“ fragte er und wurde sich im selben Moment darüber klar, dass er es konnte!

„Du kannst mit allen reden, die Dich bewusst wahrnehmen. Aber Du hast auch noch andere Möglichkeiten, denen zu helfen, die sich von Dir helfen lassen wollen.“

„Wie? Und wie komme ich auf diese herrliche Wiese?“

„Auf die Wiese kommen später einmal alle, die sich dorthin sehnen; der Weg führt dorthin. Aber nicht alle haben die Möglichkeiten, die Du hast, diese werden dorthin geführt, und das, was sie sich selbst nicht aneignen konnten, wird ihnen geschenkt. Und wie Du helfen kannst? Du musst helfen wollen, dann wirst Du es wissen!“


Ihm wirbelte alles im Kopf, und er schloss für einen Moment die Augen, als ihm plötzlich noch etwas einfiel. Er öffnete die Augen wieder, und die Frage „Warum?“ kam über seine Lippen, aber sein Gegenüber war schon weitergegangen – er sah sich um, konnte aber nicht feststellen, wohin. In seiner Nähe war nur –

- eine junge Frau, die – ihm zugewandt – mit geschlossenen Augen dastand und auf etwas zu warten schien.

Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte.